Ueberhaupt ist das siidslavische Volk reich an Liedern. Während aber die Epik wenig Gefälle hat, die Handlung meist verflacht oder im Sande verläuft, ist der lyrische Schatz ein wunderbarer. Die epischen Stücke, wie sie von den bosnischen Barden zur Gusla in einer fremdartigen, halb singenden Weise mit eigenthümlichem Rhythmus recitirt werden, handeln vom Alltagsleben und den Thaten der Helden; die Siege, wie die Niederlagen werden mit Breite geschildert, aber keine Freude schwell'1' die Brust des Sängers, kein Kummer zerdrückt ihm das Herz. Wie anders die Volkslyrik! Es ist fast unglaublich, dass diese duftenden Blüthen auf demselben Boden wuchsen. Schelmische Laune, pathetische Leidenschaft, ausgelassener Freudenüberschwang, süsse Melancholie, muthiger Trotz und hingebungsvolles Anschmiegen: für jede Regung des Gemiithes hat diese Lyrik ihre eigenen süssen Melodien. Welche innige Empfindung kommt nicht in dem Gedichte zum Ausdruck: »O Du Mädchen wunderschön! Wasche nicht die Wange Dein, Dass sie schneeig glitze nicht! Hebe nicht die Braue fein, Dass Dein Auge blitze nicht! Hüll’ den weissen Nacken ein, Dass mir nicht das Herze bricht.« Und welche eigenditimliche Liebessehnsucht klingt nicht aus dem Liede: »Wenn ich denke, süsses Liebchen, An die Röthe Deiner Wangen, Dann, mein Seelchen, hab’ ich immer Nur nach rothem Wein Verlangen. Doch wenn Deine dunkeln Augen In den Sinn mir, Liebchen, kommen, Wird um keinen Preis ein and’rer Als der dunkle Wein genommen. Und aus Trauer, auch aus Freude, Trinke, singe ich und weine, Wanke endlich heim, beseligt Von der Liebe — und vom Weine.« Und wie feurig klingt es nicht, wenn der Geliebte spricht: »So ein Kuss von Deinen Lippen, Wenn dieselben feurig küssen, Kann, mein holdes, theures Mädchen, Selbst ein Wermuthsmeer versüssen. Darum küsse, holder Engel! Küsse endlos! Nicht versage! Dass je eher Du versüssest All das Herbe früh’rer Tage!« — 88 —