54 aus dem Norden eindringenden Spitzbogenstil, so dass daraus eine eigene Bauart, die venetianische Gothik entsteht, die ihren prunkvollsten Ausdruck an den beiden Aussenfronten des Dogenpalastes fand. Damals standen schon die beiden grossen Säulen auf der Piazzetta, zwischen denen manche politische Episode ihren tragischen Abschluss fand, manche gefährliche Staatskrisis durch einen Schwerthieb gelöst wurde. So sehen wir die Vereinigung der Lagunenstädte zu einer Macht erstarken, die Con-stantinopel erobert, in allen wichtigen Städten des Orients ihre Consuln unterhält, alljährlich Handelsflotten aussendet nach Griechenland, nach Alexandrien, nach Syrien und Kleinasien, in das Schwarze Meer, nach Flandern und auf ihren Märkten am Rialto die Vertreter aller Nationen des Continents versammelt. Den Weg der deutschen Kaufleute nach Venedig haben wir in unserer Beschreibung der Nordküste bei Latisana und Porto-gruaro gekreuzt. Ihre Warenlager und ihre Schreibstuben hatten sie im Fondaco de’ Tedeschi, einem stattlichen Palaste neben der Rialto-Brücke, in dem gegenwärtig die Post untergebracht ist. Und zu den Kaufleuten gesellten sich alsbald, durch die Predigten einesMönches inBewegung gesetzt, Ritter und Knappen, •die von den Alpen zur Adria herabströmten, um unter dem Zeichen des Kreuzes das heilige Land gegen die Ungläubigen zu vertheidigen. Die nüchternen Rheder am Rialto stellten den Kreuzfahrern ihre Schiffe für gutes Geld und gelegentliche Mehrung ihrer Macht bei. Am Canal grande reiht sich Palast an Palast; noch bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts dient dabei der gothische Stil des Dogenpalastes als Vorbild, während in Italien schon längst die Sonne der Renaissance aufgegangen war. Aber Petrarca weiss keinen würdigeren Hüter seiner Codices als die Signoria von Venedig und legt mit diesem Geschenke den Grund zur Libreria di San Marco, der Jacopo Sansovino ihre prächtige Stätte auf der Piazzetta erbaut. Die Frührenaissance schuf die Riesentreppe im Dogenpalast (Antonio Rizzo), den Palazzo Vendramin-Calergi (Pietro Lombardo), die Scuola di S. Marco, die Scuola di S. Rocco, die alten Procuratien, das Colleoni-Denkmal. Dann folgte die glänzende Epoche der Hochrenaissance mit Palma vecchio, Giorgione, Tizian und Sansovino, als deren Abschluss die Werke von Palladio (S. Georgio, Redentore, S. Francesco) erscheinen. Als Vorgänger Tizians finden wir in den Gallerien und Kirchen die Schule von Murano, die Vivarini, die Bellini, Carpaccio, Cima di Conegliano, als seine Nachfolger Pordenone, Paris Bordone, Jacopo Tintoretto, Paolo Veronese, Tiepolo und Canaletto. So wie dieser letztere seine berühmten Veduten der Lagunenstadt malte, so erscheinen sie uns auch heute noch, wenn wir auf der schlanken Gondel durch die Canäle gleiten. Keine Stadt ist so vom poetischen Zauber der Vergangenheit verklärt, wie Venedig. Aber auch die Gegenwart kommt zu ihrem Rechte, und man ist wohl nirgends so sehr wie hier bestrebt, allen Ansprüchen der Besucher gerecht zu werden. Es fehlt darum auch in keiner Jahreszeit an Fremden